The Story of Julia Pastrana (with Apparatjik) & Strategies in Experimental
Das internationale Künstlerkollektiv Apparatjik sowie die aus Mexiko stammende Künstlerin Laura Anderson Barbata arbeiten an einer Oper über die Geschichte von Julia Pastrana. Im Kurs »The Story of Julia Pastrana (with Apparatjik) & Strategies in Experimental Typography« bei Sven Völker (FH Potsdam) sammelten wir Studierenden in einer umfangreichen Web-Recherche alte Zeitungsartikel über die Lebensgeschichte von Julia Pastrana.
Für ein Semester wurden wir Teil von Apparatjik und unterstützten mit einer begleitenden typografischen Ausstellung deren Auftritt in der Philharmonia Szczecin.
Ziel des Kurses
In den Zeitungsartikeln fanden wir viele unvorstellbare und detaillierte Berichte, in denen Julia Pastrana mit den schlimmsten Worten beschrieben wird. Bilder gibt es nur sehr wenige. Ziel unseres Kurses war daher einerseits, die Bildebene bewusst außen vor zu lassen, die Geschichte der Julia Pastrana aus typografischer Sicht auszuarbeiten und so über das tragische Leben dieser Frau zu erzählen.
Auf der anderen Seite untersuchten wir Studierenden die Grundlagen, Geschichte und bestehende Experimentelle Typografie. Daraus trugen wir gemeinsam verschiedene experimentelle Methoden zusammen, wie z. B. Zufall, Umnutzung, Handschrift, Rekonstruktion oder Wortbilder. Jede:r Studierende widmete sich einer Methode (ich entschied mich für die Methode »Raster«) und leitete einen selbst organisierten Workshop. Die gefundenen Zeitungsartikel boten uns umfangreiches schriftliches Material, das wir zur Gestaltung benutzen konnten.
The Story about Julia Pastrana
Julia Pastrana lebte Mitte des 19. Jahrhunderts und litt an einer extremen Form der Hypertrichose, die eine immense Körperbehaarung verursachte. Von einem Zirkusdirektor wurde sie erkauft und von da an als Sängerin und Tänzerin im Zirkus vorgeführt. Sie lernte das Gitarrespielen, sprach drei Sprachen fließend und war sehr hilfsbereit.
Als »Attraktion«, »Die hässlichste Frau der Welt« und als »Affenfrau« musste sie über mehrere Jahre auf der ganzen Welt auftreten. Verschiedene Ärzte untersuchten Julia und beschrieben detailliert die ungewöhnlichen Ausmaße ihrer Krankheit.
Der Zirkusdirektor, der sie ausschließlich des Geldes wegen zur Frau nahm, bekam ein Kind mit mit ihr. Dieses Kind litt an der selben Krankheit, lebte nur 36 Stunden und wurde nach seinem Tod zusammen mit dem Leichnam der Mutter ausgestopft und einbalsamiert. Über hundert Jahre lang waren die beiden Körper eine noch absurdere Attraktion, die weiterhin überall in der Welt ausgestellt wurde. In alten Zeitungsartikeln ist dies alles bis heute überliefert und online verfügbar!
Der Künstlerin Laura Anderson Barbata gelang es jüngst den Körper von Julia Pastrana in ihr Heimatland nach Mexiko zurückzuführen und in einer würdigen Zeremonie beizusetzen.
Das Raster als experimentelle Methode
Das Raster ist ein, aus einer bestimmten Anzahl von vorgegebenen Kategorien bestehendes System, in das Objekte eingeordnet werden können. Aber sie können nicht nur geordnet werden; wie Bücher in ein Regal; sie können auch aus einem Raster herausfallen; wie jemand, der gegen das Gesetz verstößt. In beiden Fällen bestimmt das Raster den Rahmen und setzt den Grundton. Wir sind täglich von ordnenden Systemen umgeben, es ist also nur allzu menschlich, wenn wir den Ausbruch aus ihnen herbeisehnen.
Das Raster nicht als ordnendes Regal sondern als experimentelle Methode zu betrachten, eröffnet die Möglichkeiten der Neuordnung, Umordnung, Unordnung. Einfache aber radikale Raster erlauben es, neue Formen zu entwickeln, die nicht dem Zufall entspringen, ihn aber immer wieder provozieren. Es ist das Ziel, die Regeln so eng zu stecken, dass man gezwungen ist sie ständig brechen. Diese Methode ist ein Versuch, das Raster neu zu verstehen, es zu entdecken, zu nutzen, zu verstecken und Unordnung zu stiften.
Prozess
In meinen Entwürfen experimentierte ich zuerst noch sehr bildhaft, beispielsweise durch die Verwendung der Farben Weiß und Rot, die ich mit Zirkus assoziierte oder mit dem Verschieben einzelner Buchstaben. Beim Verschieben entstanden durch die mehrfache Verwendung des Buchstabes »J« kombiniert mit einem Halbkreis ein Hinterkopf beziehungsweise eine Frisur, die auf die Behaarung anspielt, ohne diese jedoch negativ darzustellen.
Weiterhin experimentierte ich mit dem Umordnen von Wörtern eines Satzes, mit dem Festlegen von Regeln für Buchstaben, Winkel, Größen oder Konturen, mit dem Aufeinandertreffen verschiedener Raster und mit gefundenen Rastern als Layout-Vorlage.
Kontext
Team
Caroline (& Apparatjik)
Tätigkeit
Recherche in Web-Archiven,
>170 analoge & digitale Entwürfe,
Workshopleitung,
Entwurf & Produktion eines
RISO-Heftes,
Ausstellungsfotografie
Jahr
Fazit
Diesem Kurs widmete ich in meinem 6. Semester meine volle Aufmerksamkeit. Es gefiel mir, mich bei der Recherche in die Vergangenheit zu vertiefen und das Leben einer von der Gesellschaft verspotteten Frau nachzuvollziehen. Dabei erkannte ich auch das Potential von Online-Archiven und den Zugang zu alten eingescannten Zeitungsartikeln.
Im Anschluss ließ ich mich voll und ganz auf den freien und experimentellen Umgang mit Typografie ein. So passierte es häufig, dass ich einen ganzen Tag lang nur Entwürfe für diesen Kurs machte. Im Laufe eines Semesters entstand eine Sammlung von ca. 170 Entwürfen, von denen das Kurationsteam viele für die Ausstellung auswählte und aus denen ich meine eigene Entwicklung umfangreich ablesen kann.
Ein sehr großer Gewinn waren die von uns Studierenden angeleiteten Workshops zu den verschiedenen experimentellen Methoden. Der Austausch und die gemeinsame Zusammenarbeit war sehr inspirierend und fehlte mir meistens beim alleinigen Arbeiten.
Abschließend möchte ich festhalten, dass es sich für mich sehr gelohnt hat, so viel Energie und Zeit in diesen Kurs zu investieren. Sowohl meine persönliche Entwicklung, als auch die Teilhabe an diesem realen Projekt mit der erfolgreichen Ausstellung in Stettin, haben mich stark geprägt.